Nachdenken über Protagonisten im Dokumentarfilm

Filmspule Regie

Welche Verantwortung haben wir als Filmemacherinnen? Gegenüber unseren Protagonisten, aber auch gegenüber dem Publikum?

Nach meinem Dafürhalten haben wir im klassischen Dokumentarfilm seit Jahren ein anhaltendes Problem: wir Filmemacherinnen versetzen uns mit unseren Filmen in die eine oder andere Situation, aber wir provozieren nicht und wir machen damit, meines Erachtens, auch nichts grundlegend besser. Man kann sicherlich diskutieren, ob das überhaupt unsere Aufgabe ist, aber wenn wir mit unseren Filmen nichts bewirken wollen, weshalb machen wir sie dann? Die meisten Filme sagen immer irgendwie: Jetzt habt ihr es gesehen, ein kriegsgeschütteltes Land, das Leben einer berühmten Persönlichkeit oder die prekären Lebensverhältnisse einer sogenannten „sozial schwachen“ Familie. Jetzt habt ihr die echten Menschen getroffen, die in dieser Situation leben, die sich selbst „darstellen“ – jetzt also versteht ihr, was in der Welt vor sich geht. Aber ich glaube nicht, dass das reicht und ich glaube auch nicht, dass wir uns damit zufriedengeben sollten. Reicht es uns wirklich, Situationen nachzuzeichnen, Statements von sozialen Akteuren zu präsentieren, Expertenmeinungen einzuholen, um damit dem Publikum, den voll informierten Weltbürger von heute, ein gutes Gefühl zu geben? Ich nenne das eine „besorgte Aufmerksamkeit“ schaffen. Typische Aussagen von Zuschauer in diesem Zusammenhang: „Ja, das [Thema xy] ist ja auch wirklich ganz schlimm.“ 

„Der erste Schritt, um einen nützlichen Film zu machen, besteht darin, drei wirkmächtige und tückische Illusionen zu erkennen und aufzugeben,die in Dokumentarfilmen allgegenwärtig sind: die Herkunft des Realen, die Pornographie des Realen und der Imperialismus des Realen.“

–Jill Godmilow

Was das "Reale" betrifft, so sei an Robert Flahertys berühmten Dokumentarfilm von 1922 erinnert, „Nanuk, der Eskimo“. Was wir bei Dokumentarfilmen normalerweise als „real“ bezeichnen, ist eine Konstruktion, die sich daraus ergibt, wie gut der Look und der Ton des Films „das Reale“ simuliert. Dokumentarfilmemacherinnen sollten sich daran gewöhnen, diese Simulation des Realen zu umgehen. 

Der romantische „primitive“ Star des Films, der Mann, der Nanuk spielt war in Wirklichkeit kein „Eskimo“, sondern ein Inuit namens Alliakariak. Nanuk, der im Film monogam dargestellt wird, hatte in Wahrheit zwei Frauen, was in der Inuit-Gesellschaft üblich war. Zu der Zeit, als der Film gedreht wurde verkauften die Inuit Häute und Felle in den Großstädten als „Eskimo-Decken“ an windige Händler, die aus den USA einflogen und statt den traditionellen Harpunen kamen damals schon Gewehre zum Einsatz. Es ging also darum, es möglichst so aussehen zu lassen, wie man sich gemeinhin das Leben in der Arktis vorstellte. 

Auch ein anderer berühmter Film, nämlich „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“, der als erster Dokumentarfilm überhaupt gilt, wurde dreimal gedreht und eben inszeniert, bevor die Brüder Lumière mit der Beleuchtung zufrieden waren.

Warum bringe ich diese Beispiele an? Weil ich uns bewusst machen möchte, dass unsere Protagonisten, egal ob im Film, im Text oder eben in einem Hörfunkstück inszeniert werden – wir gestalten, entweder während der Dreharbeiten oder im Schneideraum.

Die vietnamesische Filmemacherin Trịnh Thị Minh Hà beschreibt das so:

„Wir nennen es dokumentarisch, weil die Realität in einer Erklärung ihrer selbst organisiert wird.“

Aber im Film gibt es meines Erachtens eben nur die Realität, die der Zuschauer wahrnimmt – und für wichtig er diese in seinem Leben erachtet. Also wie es dem Film gelungen ist, die „Realität da draußen“ für uns „hier drinnen“ einzufangen. 

Ich möchte noch kurz auf die beiden Aspekte „Pornografie des Realen“ und „Imperialismus des Realen“, wie Jill Goodmilow sie nennt, eingehen.

Mit „Pornografie des Realen“ meine ich eine Objektivierung ausdrucksstarker Bilder, die auf einen wesentlichen Aspekt ihrer selbst reduziert werden, damit die abgebildete Person (oder Personen) wirtschaftlich verwertet, „vervielfältigt und in Umlauf gebracht“, also „konsumiert“ werden kann, ohne Rücksicht darauf, wer er oder sie als Mensch ist und was er oder sie eigentlich braucht. Das lebende, fühlende Wesen tritt für uns in den Hintergrund, um des Filmes willen. Der charmante, mutige Nanuk wird so konsumierbar. Nanuk, der Eskimo ist charmante Pornografie.

Weniger charmant ist es, wenn wir Menschen in Dokumentarfilmen sterben sehen. Filme aus den 60ern und 70ern (etwa „Hunger in Amerika“ von 1968, aber auch Filme aus Vietnam und der Sahel-Zone in Afrika) sollten betroffen machen. Den Zuschauer stockte der Atem, sie weinten, waren gerührt und traurig. Als Zuschauer sind wir bei solchen Filmen als diejenigen konstruiert, die helfen würden, wenn sie denn nur könnten. Nennen wir es, was es ist: Armutsporno, Traumaporno, Wohlfahrtspornografie. Diese Filme sind ein ganzes Stück weit eine persönliche Entlastung. Wir haben uns die Missstände angesehen und waren wirklich daran interessiert. Damit sind wir die Guten, weil wir uns des Elends in der Welt bewusst sind. Auch wenn wir es in unseren Filmen nicht beabsichtigen, so bleiben wir in aller Regel an der Oberfläche. Wir appellieren an das Mitgefühl der Zusehenden, wir kreieren unter Umständen auch Mitleid. Aber über die Hintergründe, beispielsweise von Hunger, die eben sehr komplex sind, gehen wir in einem beobachtenden Dokumentarfilm „über“ Hungernde nicht ein. Und dieses „über“ jemanden einen Film machen, scheint mir in der Tat eine Crux.

Der Schweizer Filmkritiker Freddy Buache schrieb so schön:

„Mitleid ist die Schwester der Resignation und die Grundlage der moralischen Unehrlichkeit: Es liefert jedem Einzelnen, der zu feige ist, sich aufzulehnen, ein gewichtiges, aber fadenscheiniges Alibi.“

Im Wesentlichen gibt der Dokumentarfilm den Zuschauern einen Weg des mühelosen Beobachtens – wir gehen an der Seite der Filmemacherin dorthin, wohin sie uns mitnimmt – ohne tatsächlich die Mühen des Reisens auf uns nehmen zu müssen – wir müssen die Sprachen und Umgangsformen des Milieus nicht lernen, ihr Essen nicht riechen und nicht in der Zeit und den Umständen selbst leben – die Variationen dieses „nicht dabei seins“ sind unendlich. Wir beobachten die Protagonisten im scheinbar völlig unschuldigen Kontext fotografischer Genauigkeit und direkter Wahrheit, um uns zu bilden, unsere Sinne zu schärfen, damit wir gute, aufgeklärte Weltbürger sein können. Insbesondere in der gut situierten, gebildeten Mittelschicht gehört es zum guten Ton, solche Filme zu sehen. Meine Ex-Schwiegermutter, eine promovierte Germanistin, sagte auf Nachfrage, was sie denn aus einem, in der Regel preisgekrönten Dokumentarfilm mitnehme, immer das gleiche: „Oh, ein wirklich ganz hervorragender Film.“ Warum sie das sagte? Ich glaube, weil sie sich ihrer Privilegien insgeheim sehr bewusst war, sich vielleicht sogar ein bisschen schämte, dass sie gebildet war, ihr Wissen zu schätzen wusste und ihr erst das ermöglichte, Mittel und Zeit zu haben, einen Moment zuzuschauen. 

Die Haltung eines großen Teils unserer Zuschauern ist doch die: „Danke für die Möglichkeit, diese spannenden Menschen kennenlernen zu dürfen und von ihrer Situation zu erfahren.“ Zu sich selbst sagen sie dann noch „und Gott sei Dank, dass ich das nicht bin.“ Empathie, also die Fähigkeit zu verstehen oder zu fühlen, was ein anderer innerhalb seines Bezugsrahmens erlebt, ist die tragende Säule unserer Arbeit. Empathie erlaubt es nämlich, sich psychisch aufgewertet und moralisch geadelt zu fühlen und so ein erweitertes Selbst zu erleben. Doch Empathie kann auch den moralischen Kompass aus dem Gleichgewicht bringen. Sie kann dazu führen, dass wir Einzelne über die Gruppe stellen, so dass wir uns zum Beispiel mehr um eine kleine Gruppe von Betroffenen kümmern, als um die Tausenden, die das gleiche Schicksal erleiden, weil wir weiterhin so leben, und so leben wollen, wir es eben machen – auf ihre Kosten

Kommen wir also zum „Imperialismus des Realen“: Als ausgebildete Community Organizerin beschäftige ich mich bereits seit langem mit dem Thema Macht. Zentrales Anliegen dieser gesellschaftlichen Organisationsmethode ist es, Menschen dazu zu befähigen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und zu erkennen, dass sie Macht haben, Dinge zu verändern. In dieser Arbeit gehört es dazu, zu hinterfragen „Wer wäre mein Gegenüber, wenn nicht…“ Also, wenn sie nicht hätte fliehen müssen? Wer wäre sie dann? Wenn sie nicht in Haft säße? Wenn sie sich nicht totschuften müsste – zum Beispiel bei Amazon? Wenn sie nicht ihr Leben lang Sozialleistungen hätte beziehen müssen? Wer wäre er oder sie dann? 

Ein herkömmlicher Dokumentarfilm stellt solche Fragen nicht. Wir schränken sogar, sicherlich unbeabsichtigt, die Perspektive der Zusehenden ein, weil wir eben nur den Blick der Kamera zeigen oder zeigen können. An dieser Stelle sind wir momentan vielleicht sogar an einem Wendepunkt, wenn durch die Digitalisierung neue, immersive Formate kommen werden, die unseren Erfahrungsraum anderer Welten deutlich erweitern werden. Ich glaube trotzdem, dass auch mit immersiven Formaten grundlegende Probleme des Imperialen und Post-Kolonialen nicht einfach verschwinden werden.


Es braucht die Hinwendung zu unseren Protagonisten, ein Durchbrechen festgelegter Identitätspolitik und ein Verständnis dafür, dass wir selbst Verantwortung übernehmen und tatsächlich auch handeln müssen. 

Lasst uns über eine neue Art des Dokumentarfilms nachdenken, der unverhohlen interventionistisch und interaktiv ist. Die Unterschiede sind zum Teil fein – oder um es mit Rosa Luxemburg zu sagen:

„Das Revolutionärste, was man tun kann ist immer, laut zu verkünden, was geschieht.“ Also nicht Filme machen über das „was passiert ist“, sondern das, „was getan wurde“. 

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